Kaiser wieviel Schritte gibst du mir? 

27.11. 1999 – 8.1.2000

An den Wänden des Ausstellungsraums Via 113 Artgenossen hängen dicht an dicht Taschentücher aus Stoff. Geblümt, gestreift, gepunktet oder uni, umhäkelt, bedruckt und sauber sowieso, ist jedes für sich das Pendant des einer deutschen Landkarte metaphorisch entrissenen Planquadrates, ein ausgesuchter Ausschnitt deutscher Topographie. “Kaiser, wieviel Schritte gibst du mir?”, heißt die stoffliche Angelegenheit. Mit einem schwarzen Filzer hat der Produzent Daniel Schürer auf jedem Tuch eine krumme Linie isoliert, (nach-) gezeichnet und zusätzlich noch einmal mit einem schwarzen Faden übernäht. Die Schritte, von denen hier die Rede ist, beziehen sich auf die mit der schwarzen Linie konnotierte Wegstrecke, genauer eine inzwischen stillgelegte Eisenbahnstrecke zwischen Weimar und Buchenwal. Zwischen zwei Orten also, die untrennbar mit deutscher Geschichte “vernäht” sind. 

Zum anderen ist es die emotionale, nur mit inneren Schritten abgehbare Strecke zwischen Kultur- und Barbarei, die den Künstler zu der intelligenten reduzierten, ironisch – leichten und unkompliziert nachdenklichen grafischen Umsetzung inspiriert hat. Auf den ersten Blick zeigt sich den Betrachtern kaum mehr als ein seltsames Zeichen, das sie bald als einen Flusslauf, als das Profil eines Tieres oder schlicht einen Faden identifizieren können. Schürer sind diese orientierungslosen Assoziationen sehr recht, sie leiten den durchaus vorhandenen didaktischen Zeigefinger verspielt auf Irrwege. Auf weißen steilen Stellen findet sich in einem anderen Raum jeweils eben diese Linie als Metall Figur in die Luft gestreckt. Im dunklen Kellerraum der Galerie erscheint wie eine glitzernde Perlenschnur aus Strass eben diese Linie überdimensional an einer von hinten beleuchteten schwarzen Wand. Schön schaurig verbindet die krumme Linie nicht bloß zwei Orte, sondern auch die Eckpunkte Politik, Kunst – kein gerader Weg vom einen zum anderen. Der Linie, so Schürer, sieht man es nicht an, was sie verbindet, sie erinnert vielmehr an Sylt-Autoaufkleber oder an ein Fabelwesen. Der Künstler wird sein doppelsinnig nationalistisches Kunstzeichen auf eben diese Weise vermarkten. Als Aufkleber, Kettenanhänger oder Button wird das Zeichen seriell gefertigt werden. Hoffentlich erstehen wird diese Produkte, wer den so deutschen Spagat offen dialektisch zu (s)einem alltäglichen Identitäts-(Kunst)-kennzeichen machen will. Den Besuchern vermag Schürer in einer kleinen Einführungsrede persönlich schlüssig zu vermitteln, was ihm alles zu der geschichtlich hoch besetzten Linienfigur (die in ihrer Zeichenhaftigkeit auch entfernt an eine Höhlenmalerei erinnert), und auch was ihm zu Stofftaschentücher einfällt. Wie jedes Tuch für eine individuelle Geschichte stehen mag, ist die Weimar-Buchenwald-Linie eine, die jeden Deutschen meint. Schürers Kunst zeigt sich – ist das theoretische Konzept auch schlüssig – kaum spontan, emotional berührend oder unmittelbar. Schürer interessiert mehr das Arrangement, die nur wie beiläufig verkopfte, charmant vage Kunstebene, durch die er aber sein Publikum mit hoher Vermittlungs-Bereitschaft zu führen bereit ist. Wieder ein schlaues Projekt mit ambivalenter Vermarktungsstrategie, das sinnstiftend ist. 

(Nicola Bongart, HAZ)

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